Ein Jahrzehnt des Wandels für jesidische Frauen, doch das Trauma hält an

Triggerwarnung: Dieser Blogpost handelt von Gewalt.

Wir nähern uns dem zehnten Jahrestag des Völkermords an den Jesid*innen und denken an den bemerkenswerten Weg der jesidischen Frauen in unserem SCHULUNGSPROGRAMM, die trotz der traumata des konflikts an sich glauben. Dieser Meilenstein ist nicht nur eine Erinnerung an die Grausamkeiten, denen sie ausgesetzt waren, sondern auch ein Zeugnis für ihre Widerstandsfähigkeit und Stärke.  

Ein Jahrzehnt des Schmerzes und des Mutes  

Der Völkermord an den Jesid*innen begann am 3. August 2014, als der IS in die Sinjar-Region im Irak eindrang und etwa 400.000 jesidischen Männern, Frauen und Kindern Tod, Gefangenschaft und grausame Gewalt zufügte. Die Männer wurden vor die Wahl gestellt, entweder zu sterben oder zum Glauben zu konvertieren, während die Frauen zwangskonvertiert, gefangen genommen, verkauft und sexuell versklavt wurden. Mehr als 6.000 jesidische Frauen und Kinder mussten diesen brutalen Kreislauf der Gefangenschaft ertragen. Die Traumata sollten unüberwindbar sein und sicherstellen, dass die jesidische Identität ausgelöscht wird.  

Trotz dieser unvorstellbaren Schrecken haben die jesidischen Frauen immense Stärke und Tapferkeit bewiesen. Für die jesidische Programmbeauftragte von Women for Women International, Khalida Lazgeen, ist der Schmerz noch sehr real. Sie war eine junge Frau, als IS-Kämpfer sich ihrem Dorf bis auf wenige Kilometer näherten. Sie sagt, dass ihre Familie wusste, was passieren würde, wenn sie gefangen genommen würden.   

Als der IS in den Irak kam, gab meine Familie uns Mädchen ein Messer und sagte uns, dass wir uns umbringen sollten, wenn wir gefangen genommen würden.

Khalida

 

Khalida ist dankbar, dass sie der Gefangennahme entkommen konnte und unterstützt im Rahmen unseres SWSN-Programms andere Frauen aus der jesidischen Gemeinschaft, die derzeit in Lagern in der irakischen Region Kurdistan leben.

Ihre Stärke erkennen 

Seit der Gründung haben 24.726 Frauen das SWSN-Programm im Irak absolviert, darunter viele jesidische Überlebende. Diese Frauen haben Kenntnisse darüber erworben, wie sie finanziell unabhängig werden können, sie haben ihre Rechte kennengelernt und wichtige Gesundheitsinformationen erhalten. Dies ist ein bedeutender Fortschritt. 

Khalida mit ihrer Solidarity Group im Irak, Credit: WfWI

Khalida erzählt: „Vor ein paar Jahren sprach ich einige Frauen in meiner Nachbarschaft an, um ihnen von WfWI und den Möglichkeiten zu erzählen. Sie weigerten sich hartnäckig, der Organisation beizutreten, und sagten, ihre Ehemänner würden es nicht erlauben. Aber nach drei Jahren Präsenz in der Gemeinde klopfte vor Kurzem eine Gruppe von Frauen an die Türen unseres Zentrums und bat darum, in das Programm aufgenommen zu werden. Es hat mich sehr gefreut zu sehen, dass die Frauen sich für das Programm interessieren und dass Women for Women International die Gemeinde beeinflusst hat.” 

Barrieren überwinden und Gemeinschaften aufbauen  

Die Wirkung des Programms geht über die Berufsausbildung hinaus. Es hat einen sicheren Raum für Frauen geschaffen, in dem sie sich austauschen, ihre Erfahrungen teilen und sich gegenseitig unterstützen können. Khalida bemerkt: „Ich sehe wirklich eine Veränderung bei den Frauen… die Art und Weise, wie sie miteinander verbunden sind, die Unterstützung, die sie erhalten, sie fühlen sich wie zu Hause.“  

Der Mut, den diese Frauen aufbringen müssen, um an dem Programm teilzunehmen – oft an der Seite von Menschen, die sie einst als Gegnerinnen betrachteten – ist immens. Dennoch gehen sie aus dem Programm selbstbewusst und gestärkt heraus und sind mit den nötigen Fähigkeiten ausgestattet, um ihr Leben selbstbestimmt zu führen und für ihre Rechte einzutreten. Das SWSN-Programm hat nicht nur ihr Leben verändert, sondern auch die Wahrnehmung der Rolle der Frau in der Gemeinschaft. 

Eine persönliche Mission zur Entfaltung der eigenen Stärke 

Für Khalida ist ihre Rolle eine sehr persönliche. Als Mutter einer jungen Tochter stellt sie sich eine Zukunft vor, in der ihre Tochter und alle Frauen ihrem Herzen folgen, ihre Meinung sagen und sich gegenseitig unterstützen können. Khalidas Engagement für diese Sache ist unerschütterlich. „Als Frau sehe ich die Macht in mir selbst. Ich möchte meine Macht nutzen, um Frauen zu unterstützen, deren Stimmen nicht gehört werden, Frauen, die Angst haben, ihre Meinung zu sagen, und Frauen, die ihr eigenes Unternehmen gründen und Teil der Gemeinschaft sein wollen. Ich werde meine Stimme nutzen, um ihnen Gehör zu verschaffen.“ 

Aktuelle Lage und Aufruf zum Handeln  

Der Blick in die Zukunft zeigt, dass die Herausforderungen weiterhin gewaltig sind. Die Jesid*innen, die jetzt von der irakischen Regierung zurück nach Sinjar gezwungen werden, kehren in eine vom Konflikt verwüstete Heimat zurück, in der es an grundlegenden Dingen wie sauberem Wasser fehlt.  

Die geplante Schließung der Vertriebenenlager in der kurdischen Region des Irak bis zum 30. Juli wird die Rechte vieler Lagerbewohner*innen aus dem nördlichen Sinjar-Distrikt gefährden. Sinjar ist nach wie vor unsicher und es fehlt an angemessenen sozialen Diensten, um die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte von Tausenden von Vertriebenen zu gewährleisten, die möglicherweise bald zur Rückkehr gezwungen werden. Das irakische Ministerium für Migration und Vertreibung hat diesen Termin für Januar 2024 angekündigt.   

Eine Frau aus einem Lager, das geschlossen werden soll, sagte gegenüber Women for Women International: „Ich fühle mich traurig und hoffnungslos. Irgendwann würden wir gerne nach Hause zurückkehren, aber wir sind immer noch psychisch traumatisiert. In Sinjar gibt es keine Infrastruktur, keine Arbeitsmöglichkeiten und keine Sicherheit.“ 

Der zehnte Jahrestag des Völkermords an den Jesid*innen ist eine Zeit der Reflexion und des Gedenkens, aber auch eine Zeit, um auf die aktuellen Probleme der Jesidinnen und anderer Binnenvertriebener aufmerksam zu machen. Wir müssen uns für eine sichere, freiwillige und menschenwürdige Rückkehr nach Sinjar einsetzen und dafür sorgen, dass die notwendige Infrastruktur und Dienstleistungen zur Unterstützung der Gemeinschaft vorhanden sind.

Jetzt ist es an der Zeit zu handeln und die jesidischen Frauen und ihre Familien beim Wiederaufbau ihres Lebens zu unterstützen, um eine Zukunft zu gewährleisten, in der jesidische Frauen und ihre Familien an ihrem Herkunftsort glücklich leben können. 

Mehr zu unserer Arbeit im Irak

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