FAZILA AUS BOSNIEN UND HERZEGOWINA
In ihrem kleinen Geschäft direkt bei der Gedenkstätte Srebrenica-Potočari verkauft die 65-jährige Fazila Blumen an Trauernde und Besucher, die vorbeikommen, um die 8.000 Männer und Jungen zu ehren, die dort im Juli 1995 ihr Leben verloren haben. Vor dem Genozid lebte Fazila mit ihrem Mann Hamed, ihrem Sohn Fejzo und ihrer Tochter Nirha in Srebrenica. Heute sind nur noch sie und Nirha übrig.
Fazila und ihre Familie hatten in den Tagen vor dem Massaker Zuflucht auf dem Gelände der Vereinten Nationen in Srebrenica gesucht. Aber als serbische Truppen plötzlich die Kontrolle über das Gebiet übernahmen, wurden Fazila und Nirha von Hamed und Fejzo getrennt. Ihr Mann und Sohn wurden in Busse gesetzt, um in ein vorübergehendes Internierungszentrum gebracht zu werden.
Sie sahen sie nie wieder.
Die darauffolgenden Tage waren von Chaos und Angst bestimmt. Fazila und Nirha flohen zusammen mit Tausenden anderen Menschen aus Srebrenica. Tage, Wochen und Jahre vergingen. Das Schicksal ihres Mannes und ihres Sohnes wurde totgeschwiegen.
Anfang der 2000er Jahre beschloss Fazila, sich für das Trainingsprogramm “Stronger Women, Stronger Nations” von Women for Women International in Sarajevo anzumelden. Dort schloss sie sich anderen Frauen an, die ebenfalls damit kämpften, sich von dem erlebten Trauma und den Folgen des Krieges zu erholen. Fazila wünschte sich eine bessere Zukunft für ihre 15-jährige Tochter und wusste, dass sie mit ihrem Leben weitermachen musste. “[Meine Tochter] war in diesem Moment die wichtigste Person für mich”, erinnert sich Fazila.
Mir war bewusst, dass ich meine persönliche Tragödie in Energie umwandeln musste, die zunächst meine Tochter und dann auch andere Frauen aus meiner Stadt benötigten
Rückkehr nach Srebrenica
Fazila traf 2002 die schwierige Entscheidung, nach Srebrenica zurückzukehren. Sie zog zurück in das Haus, in dem sie und ihr Mann vor dem Krieg ihr gemeinsames Leben begonnen hatten, wo ihr Sohn geboren wurde, seine ersten Schritte machte und seine Kindheit verbrachte. Als Fazila dort ankam, fand sie ihr Haus in Trümmern vor. Langsam begann sie, es selbst wieder aufzubauen, allerdings kamen gleichzeitig die Erinnerungen und das Trauma, das sie erlebt hatte, zurück.
„Verbitterung, Wut und Angst versteckten sich unter dem Trümmerhaufen“, sagt Fazila. Die Erinnerung an die Worte ihrer Mutter inspirierte sie, weiterzumachen.
„[Sie sagte mir:] ‚Du musst im Leben mutig sein und dich deinen größten Herausforderungen und Ängsten stellen, die das Leben mit sich bringt! Wenn du dir etwas wirklich wünschst, darfst du niemals aufgeben!'“
Fazila und die anderen Frauen, die nach Srebrenica zurückkehrten, sahen sich mit einer Reihe komplizierter legaler Angelegenheiten konfrontiert, um ihr Eigentum formell einzufordern, von Projekten zum Wiederaufbau ihrer Häuser zu profitieren und sich Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten zu schaffen.
Viele der Frauen hatten keine Ausbildung und wussten nicht, wie sie sich inmitten der vielen Formalitäten zurechtfinden sollten, die sie eigentlich unterstützen und schützen sollten. Für die meisten Frauen war es zudem ein schwieriger, emotionaler Schritt, ein selbstbestimmtes Leben zu beginnen.
Ich hatte das Gefühl, dass ich ihnen dabei helfen muss, denn wir hatten nur uns selbst.
Zusammen einen Ausweg finden
Gemeinsam gründeten Fazila mit einer Gruppe von Rückkehrerinnen einen eigenen Verein – Mothers of Srebrenica -, um Überlebende zu unterstützen und eine Möglichkeit für Frauen zu schaffen, zusammenzukommen, um sich gegenseitig zu ermutigen und Wege zur Lösung gemeinsamer Probleme zu finden. Außerdem ist es ihnen wichtig, das Bewusstsein für das zu schärfen, was ihren Familien 1995 widerfahren ist. Im Laufe der Jahre ist der Verein gewachsen und hat sich für die Aufarbeitung der Verbrechen in Srebrenica eingesetzt.
„Diejenigen, die uns zuhören, können die Botschaft an andere weitergeben, und auf diese Weise geht die Wahrheit um die ganze Welt“, sagt Fazila. Zumindest hofft sie, dass ihre Arbeit andere daran erinnern wird, dass schreckliche Dinge an jedem Ort und jedem Menschen passieren können.
Fazila hat dank ihrer Arbeit mit dem Verein „Mothers of Srebrenica“ ihr Selbstvertrauen zurückgewonnen und die Kraft gefunden, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Sie wandte sich an das Team von Women for Women International in Sarajevo und ermutigte sie, ihre Programme auf Srebrenica auszuweiten, um den Frauen in ihrer Gemeinde zu helfen, das Trauma des Krieges zu überwinden.
„Fazilas Geschichte ist ein Paradebeispiel dafür, wie die Frauen von Bosnien und Herzegowina im Zentrum der Bemühungen um den Wiederaufbau unseres Landes standen und stehen“, sagt Seida Saric, Direktorin von Žene za Žene International, einer Schwesterorganisation von Women for Women International, die mit Fazila an dem Tag dabei war, als Women for Women International ihr Büro in Srebrenica eröffnete. Heute unterstützt Žene za Žene weiterhin mehr als 30 Frauenvereinigungen von Women for Women International-Absolventinnen.
Frauenverbände in ganz Bosnien stärken lokale Gemeinschaften, schaffen Möglichkeiten für wirtschaftliche Entwicklung und bürgerliches Engagement. Sie schaffen Brücken für Heilung und Zusammenarbeit, um in unsere Zukunft zu investieren.
Erinnerungen an das Geschehene
Während sie mit ihrem Leben weitermachte und ihrer Tochter half, ihren Master-Abschluss zu machen, war die Vergangenheit nie weit von Fazilas Gedanken entfernt. Jeden Tag trägt sie noch das Taschentuch mit sich herum, das ihr Sohn ihr vor seinem Tod gab.
Sie trug es auch an dem Tag im Jahr 2003 bei sich – acht Jahre nach dem Völkermord – als die sterblichen Überreste ihres Mannes Hamed endlich in einem Massengrab gefunden und in der Gedenkstätte und dem Friedhof von Srebrenica-Potočari, wo sie ihren Blumenladen betreibt, umgebettet wurden.
Das Taschentuch war ebenso dabei, als 2005 weitere Überreste ihres Mannes in einem zweiten Massengrab gefunden wurden und sie ihn umbetten ließ.
Und es war dabei, als sie 2013 endlich die sterblichen Überreste ihres Sohnes Fejzo auf demselben Friedhof wie ihren Mann begraben konnte.
Als Zeugin des Leidens von Frauen, die ähnliche Erfahrungen wie sie gemacht haben, sowohl in Bosnien als auch auf der ganzen Welt, sagt Fazila, sie fühle deren Schmerz, als wäre es ihr eigener.
Diejenigen, die kämpfen, ermutigt sie, sich ihrer Kraft bewusst zu werden:
„Frage dich, welche Kraft in dir steckt und wie du damit denen helfen kannst, die ihre Kraft gerade nicht erkennen oder finden können … Es ist nicht immer einfach, aber ich bin mir sicher, auch du wirst deinen Weg finden! Manchmal wirst du denken, dass du diejenige bist, die Hilfe braucht, und das ist in Ordnung so! Aber suche stets nach deiner inneren Kraft und du wirst erkennen, dass auch du jemandem helfen kannst.“
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