Musik, Freundschaft und Kummer: Ein Jahr nach der Flucht aus der Ukraine

Olga schaltet das Radio zum ersten Mal seit zwölf Monaten wieder ein. Seit der Invasion Russlands in die Ukraine im letzten Jahr konnte sie keine Musik mehr hören. In Mariupol sang Olga Pop- und Volksmusik mit ihrer Gruppe Melody, die es bis in die ukrainische Version der Talentshow X-Factor schaffte. Ihr Mann war der Kopf des Orchesters von Mariupol. Als der Krieg ausbrach, machte sich Olga mit ihrem Sohn Max und ihren Eltern auf die beschwerliche Reise über die Grenze nach Polen. Ihr Mann blieb in der Ukraine zurück.

Olga bei einem ihrer Auftritte

Ein Jahr später, während sie allein in ihrer Warschauer Wohnung Lieder hört, denkt Olga über ihre Vergangenheit als Musikerin nach. „Es ist mir das Wichtigste in meinem Leben und ich vermisse es sehr. Mein Gesang, meine Gruppe, mein ganzes Leben. Es ist sehr schmerzhaft für mich“, sagt sie. 

Es ist nicht nur die Musik, die Olga vermisst. Es ist das Essen: Hering, der in Polen nicht auf die gleiche Weise zubereitet wird, Salo, eine ukrainische Delikatesse, die ein wenig an Speck erinnert, und die saure Rote-Bete-Suppe, die sie so liebt, Borschtsch. Sie vermisst auch ihre Freunde. Für Olga war Mariupol ein Ort voller Freunde und Gesang, wo jeder jeden kannte. Jetzt ist ihre Band Melody auf der ganzen Welt verstreut, gemeinsam mit anderen Freunden in Polen, in Deutschland und in Irland. Für Olga gibt es kein Gefühl von „Zuhause“ mehr. Treffen finden über Zoom statt. Auch das Scrollen durch ihr Handy bringt ihr keine Freude. Auf dem Weg nach Polen löschte sie alle ihre Fotos, für den Fall, dass sie von russischen Truppen gefangen genommen werden würde. Eine Entscheidung, die sie jetzt bereut. 

Polen nahm mehr ukrainische Geflüchtete auf als jedes andere Land – nach Angaben der Vereinten Nationen wurden dort fast 1,5 Millionen Menschen registriert, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Sie befinden sich zwar in Sicherheit, doch auch zwölf Monate nach Ausbruch des Krieges hängt jede*r Einzelne von ihnen in der Schwebe und trauert um das Leben, das sie einst hatten. 

Als ich nach Warschau kam, wusste ich nicht, wie lange ich bleiben würde, und ich hoffte, dass mein Mann nachkommen könnte“. erklärt Olga. „Ohne ihn, ohne meine Eltern, sind wir keine Familie. Ein Jahr ist vergangen und es wird nicht einfacher. Wir wissen, dass der Krieg noch nicht vorbei ist, aber niemand weiß, wann er zu Ende sein wird. Es ist sehr schwierig.

Als sie in der Stadt ankamen, schickte Olga ihren Sohn Max auf die ukrainische Schule in Warschau, doch zu Beginn dieses Schuljahres meldete er sich an einer lokalen polnischen Schule an. Der kontaktfreudige Teenager ist glücklich und hat viele Freunde gefunden. Auf Olgas Drängen hin nimmt er jedoch weiterhin am Online-Unterricht in allen Fächern auf Ukrainisch teil. 

Durch Olgas Arbeit bei einer gemeinnützigen Organisation in Warschau hält sie an ihrem Leben in der Ukraine fest und unterstützt Frauen, die wie sie aus Mariupol vertrieben wurden. Die Human Doc Foundation war die erste Gruppe, der sie begegnete, als sie in Polen ankam. In den darauffolgenden Wochen war Olga nicht mehr in der Lage zu singen. Sie musste dringend Geld verdienen, um sich und Max ernähren zu können. Sie engagierte sich deshalb als Freiwillige, bis sie schließlich fest angestellt wurde. 

Meine Arbeit ist das, was mich rettet“, sagt Olga. „Ich arbeite mit Menschen, die ich liebe. Ich arbeite mit Frauen, die miteinander reden und sich gegenseitig umarmen. Wir unterstützen uns gegenseitig.

Women for Women International hat das Glück, mit fantastischen Kolleginnen und Kollegen wie Olga von der Human Doc Foundation zusammenzuarbeiten, um 320 Frauen und Kindern dabei zu helfen, ihr Leben wieder aufzubauen – so gut es geht, weit weg von Zuhause und ihrer Familie. Gemeinsam mit unseren Partnern bieten wir den geflüchteten Frauen sichere Räume, in denen sie sich treffen können und psychosoziale Unterstützung erhalten, darunter auch Kunsttherapie, um den Heilungsprozess zu unterstützen. 

Während sich die Geflüchteten mit dem Leben in einer fremden Stadt ohne die üblichen Unterstützungsnetzwerke konfrontiert sehen, bietet unser Team Hilfe bei der Wohnungssuche, Rechtsberatung und Berufsausbildung, damit die Frauen finanziell unabhängig werden können. Ebenso wichtig ist für Olga die Unterstützung durch einen regelmäßigen Kaffeeplausch mit Menschen, die genau wissen, was man durchgemacht hat und den Schmerz teilen. Eine wichtige Verbindung zu einem Leben, das immer weiter entfernt zu sein scheint, sagt Olga:

Viele der geflüchteten Frauen haben hier außer ihren Kindern niemanden, den sie kennen. Wenn wir miteinander reden, verstehen wir, dass unsere Probleme die gleichen sind. Dadurch spürt man auch wieder, dass man in dieser großen Stadt nicht allein ist.

Trotz allem, was im letzten Jahr passiert ist, schaffen es die Klänge aus ihrer Heimat noch immer, Olga zu begeistern. Seit sie vor ein paar Wochen wieder angefangen hat, Musik zu hören, ist sie besonders von einer neuen Welle ukrainischer Popmusik begeistert, die einen ganz frischen Sound hat. Ihr Gesicht erhellt sich, als sie erklärt, dass es einen neuen, europäischeren Stil gibt. Ein Jahr nach ihrer Flucht ist es die Musik aus ihrem Heimatland, die Olga endlich wieder etwas gibt, worüber sie singen kann. 

ÜBER OLGA UND DIE HUMAN DOC FOUNDATION

Olga Moisieieva arbeitet für die Human Doc Foundation, einer Partnerorganisation von Women for Women International in Polen. Sie wurde durch den Krieg aus der Ukraine vertrieben und lebt mit ihrem Teenager-Sohn in Warschau. Women for Women International unterstützt zusammen mit der Human Doc Foundation und der Mariupol Women’s Association, Bereginia, 320 geflüchtete Frauen und Kinder aus der Ukraine. Gemeinsam mit unseren lokalen Partnern organisieren wir sichere Räume, um zusammenzukommen und leisten psychosoziale Unterstützung, darunter auch Kunsttherapie. Unser Team unterstützt die Frauen außerdem bei der Wohnungssuche, berät sie in Rechtsfragen und bietet ihnen eine Berufsausbildung an, damit sie finanziell unabhängig werden können. 

ÜBER WOMEN FOR WOMEN INTERNATIONAL

Women for Women International engagiert sich dort, wo die Ungleichheit am größten ist, und hilft den Frauen, die vergessen wurden – den Überlebenden von Kriegen und Konflikten. Seit 1993 hat unsere globale Gemeinschaft in die Stärke von mehr als 530.000 Frauen in 14 konfliktbetroffenen Ländern investiert, um einen Welleneffekt zu erzielen, der die Welt gerechter, friedlicher und wohlhabender macht. 

Im Rahmen des Programms „Stronger Women, Stronger Nations von Women for Women International erlernen Frauen die Fähigkeiten, die sie für den Wiederaufbau ihrer Familien und Gemeinden benötigen. In Afghanistan, Bosnien und Herzegowina, der Demokratischen Republik Kongo, im Irak, im Kosovo, in Nigeria, Ruanda und im Südsudan bilden Frauen, die an dem Programm teilnehmen, Unterstützungsnetzwerke, werden mit den nötigen Fähigkeiten ausgestattet, um ein Einkommen zu erzielen und zu sparen, und erhalten Wissen und Ressourcen, um für ihre Familien zu sorgen und ihre Rechte zu verteidigen. Die Frauen nutzen ihre Stärke gemeinsam und geben sie an ihre Gemeinschaft und ihre Kinder weiter, um einen dauerhaften Wandel herbeizuführen. 

Das ist die Kraft von Frauen, für Frauen. 

In den nächsten zehn Jahren wollen wir unser Engagement ausweiten, um das Leben von Millionen der am stärksten marginalisierten Frauen zu verbessern, die von Kriegen und Konflikten betroffen sind. Unsere Vision ist es, eine Welt zu schaffen, in der alle Frauen den Verlauf ihres Lebens selbst bestimmen und ihr volles Potenzial ausschöpfen können. 

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